Gefahren der Scheinselbstständigkeit für den Auftraggeber
Scheinselbstständigkeit ist ein bedeutendes Risiko für Unternehmen. Wird ein Auftragnehmer nachträglich als scheinselbstständig eingestuft, drohen erhebliche finanzielle Konsequenzen. Denn die Sozialversicherungsbeiträge können bis zu 40,9 % des Bruttolohns ausmachen. Der Arbeitgeber trägt grundsätzlich die Hälfte dieser Beiträge, die andere Hälfte wird normalerweise vom Arbeitnehmer einbehalten (§ 28g SGB IV). Falls jedoch eine Scheinselbstständigkeit festgestellt wird, kann der Auftraggeber den Arbeitnehmeranteil nur für die letzten drei Monate rückwirkend einbehalten, während er den restlichen Zeitraum allein tragen muss (vgl. Knickrehm/Roßbach/Waltermann/Roßbach, 8. Aufl. 2023, SGB IV § 28g Rn. 3; LAG Köln, Teilurteil v. 6.2.1991 – 7 (6) Sa 441/90, BeckRS 1991 40405).
Kriterien der Scheinselbstständigkeit
Die Rechtsprechung hat über die Jahre eine Vielzahl von Einzelkriterien erarbeitet, anhand derer festgestellt wird, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt. Insgesamt untersucht die Rechtsprechung, ob die Tätigkeit des Auftragnehmers im Einzelfall der Tätigkeit eines Arbeitnehmers oder eines selbstständigen Unternehmers gleichkommt; im ersten Falle ist der Auftragnehmer in Wahrheit abhängig Beschäftigter (oder anders: „nur zum Schein“ Selbstständiger).
Die wesentlichen Kriterien der Rechtsprechung lassen sich in die Hauptkriterien des Direktionsrechts, der persönlichen Abhängigkeit und der Eingliederung in den Betrieb einteilen:
1. Direktionsrecht des Auftraggebers
Ein Direktionsrecht des Auftraggebers kann entscheidendes Kriterium für die Frage der Selbstständigkeit sein; denn einem Direktionsrecht unterliegen typischerweise nur Arbeitnehmer (vgl. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV; BeckOGK/Zieglmeier, 15.11.2023, SGB IV § 7 Rn. 89). Ob der Auftraggeber Weisungsbefugnisse bezüglich der Zeit, Dauer, Ort und der Art der Auftragsausführung hat, ist dabei anhand der tatsächlich gelebten Zusammenarbeit zu beurteilen, nicht anhand der formalen Benennung der Tätigkeit im Vertrag. Die Parteien haben also kein „echtes“ Wahlrecht, ob Sozialversicherungspflicht besteht (BeckOGK/Zieglmeier, 15.11.2023, SGB IV § 7 Rn. 87; NK-ArbR/Boecken, 2. Aufl. 2023, SGB IV § 7 Rn. 13).
2. Eingliederung in den Betrieb des Auftraggebers
Ein weiteres entscheidendes Kriterium ist die tatsächliche Eingliederung des Auftragnehmers in die Betriebsorganisation des Auftraggebers. Eine Eingliederung liegt vor, wenn der Auftragnehmer weitgehend in die Strukturen des Auftraggebers integriert ist und sich der fremden Betriebsorganisation nicht entziehen kann (vgl. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV). Wenn der Auftragnehmer jedoch unabhängig agiert und keine festen organisatorischen Bindungen an den Betrieb des Auftraggebers hat, spricht dies für eine selbstständige Tätigkeit.
3. Persönliche Abhängigkeit
Zusammenhängend mit Direktionsrecht und betrieblicher Eingliederung des Auftraggebers untersucht die Rechtsprechung in der Regel auch die sog. „persönliche Abhängigkeit“ des Auftragnehmers. Die persönliche Abhängigkeit kann dabei als Sammelbegriff aufgefasst werden, der u.a. folgende Einzelkriterien zugeordnet werden:
a. Wirtschaftliche Abhängigkeit
Ist der Auftragnehmer vom Auftraggeber wirtschaftlich abhängig, stellt dies ein Indiz für Scheinselbstständigkeit dar; denn der „klassische“ Unternehmer ist nicht vollständig von einem Kunden abhängig, während der „klassische“ Arbeitnehmer i.d.R. nur einen Arbeitgeber hat (von dem er sein gesamtes Einkommen bezieht). Die Rechtsprechung spricht daher von wirtschaftlicher Abhängigkeit, wenn der Auftragnehmer hauptsächlich für einen einzigen Auftraggeber tätig ist und dieser die Haupt-Einkommensquelle darstellt.
b. Wahrnehmung unternehmerischer Chancen
Auch die Möglichkeit des Auftragnehmers, eigenständig unternehmerische Chancen zu ergreifen und zusätzliche Aufträge zu akquirieren, wird für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung herangezogen. Kann der Auftragnehmer auch für andere Unternehmen (nicht nur „auf dem Papier“, sondern auch tatsächlich) tätig werden, spricht dies eher für eine selbstständige Tätigkeit. Muss der Auftragnehmer dagegen bspw. die Erlaubnis einholen, bevor er für andere Unternehmen tätig wird, deutet dies auf eine abhängige Beschäftigung (und somit Scheinselbstständigkeit) hin.
c. Vorhandensein anderer Auftraggeber
Mit der Möglichkeit, unternehmerische Chancen wahrnehmen zu können, hängt auch die Frage zusammen, ob der Auftragnehmer dies tatsächlich tut. Wenn der Auftragnehmer ausschließlich für einen Auftraggeber tätig ist, könnte daraus geschlossen werden, dass der Auftragnehmer andere Auftraggeber in gelebter Praxis nicht haben darf. Bestehen hingegen mehrere Auftraggeber, spricht dies für eine selbstständige Tätigkeit.
d. Honorarhöhe und Vergütungsmodell
Ein gewichtiges Indiz für die Frage, ob Selbstständigkeit oder abhängige Beschäftigung vorliegt, kann auch das dem Auftragnehmer gezahlte Honorar sein. Unternehmer müssen beim Verkauf ihrer Leistungen nicht nur einen eigenen Unternehmerlohn, sondern darüber hinaus typischerweise auch Fixkosten (bspw. für Arbeitsmittel, Betriebsräume, eigene Mitarbeiter etc.) einkalkulieren; ihr Honorar muss daher zwingend weit über dem Gehalt eines vergleichbaren sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmers liegen.
Die Rechtsprechung argumentiert zudem mit dem Versorgungsgedanken. Die Sozialversicherungssysteme dienen der persönlichen Versorgung des Arbeitnehmers durch Beteiligung an einer Solidargemeinschaft. Die Mitglieder der Solidargemeinschaft leisten unabhängig von ihrer persönlichen gesundheitlichen Situation, aber abhängig von der eigenen Leistungsfähigkeit, Beiträge an die Versicherung. Durch Vereinnahmung von Beiträgen wirtschaftlich „starker“ Mitglieder können wirtschaftliche „schwache“ Mitglieder mitfinanziert werden.
Wer ein besonders hohes Einkommen hat, kann durch eigene Rücklagen seine Versorgung sichern; er ist auf die Solidargemeinschaft nicht angewiesen. Auch aus diesem Grunde spricht ein hohes Honorar für eine selbstständige Tätigkeit, da dem Auftragnehmer eher eine Eigenvorsorge möglich ist (vgl. BSG, 30.03.2017 – B 12 R 7/15 R; BeckRS 2017 114148).
Auch das Vergütungsmodell kann Anhaltspunkte liefern: Arbeitnehmer werden in festen Zeitabschnitten, i.d.R. monatlich, bezahlt; die Abrechnung ihrer Tätigkeit obliegt dem Arbeitgeber. Wird dagegen eine Zahlung nur auf Rechnung des Auftragnehmers geleistet (die der Auftragnehmer auch selbst erstellt), ist dies Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.
e. Unternehmerrisiko
Auch das Vorliegen eines eigenen Unternehmerrisikos des Auftragnehmers, etwa durch unvorhersehbare Einkommensverluste oder Haftungsrisiken, ist ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit (BeckOGK/Zieglmeier, 15.11.2023, SGB IV § 7 Rn. 130). Das Kriterium ist anerkanntermaßen aber gerade im Dienstleistungssektor eher schwierig zu bewerten. Denn Dienstleister haben bereits kraft Natur ihrer Tätigkeit ein geringeres Risiko als etwa das produzierende Gewerbe, welches u.a. Material und Maschinen / Geräte einkaufen muss.
f. Arbeitsmittel und Betriebsorganisation
Ein weiteres Merkmal für eine selbstständige Tätigkeit ist das Vorhandensein eigener Arbeitsmittel und die Möglichkeit, eine eigene Betriebsorganisation zu betreiben. Selbst wenn dies bei Dienstleistungsverträgen weniger relevant erscheint, deutet es auf Selbstständigkeit hin, wenn der Auftragnehmer seine eigenen Arbeitsmittel verwendet und eigene Mitarbeiter einsetzen kann.
g. Einhaltung gesetzlicher Regularien
Auch wenn eher von untergeordneter Bedeutung, ist auch die Beachtung steuerlicher und ordnungsrechtlicher Pflichten ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit. Dies umfasst beispielsweise die ordnungsgemäße Meldung des Betriebes ggü. dem Betriebsfinanzamt oder – sofern erforderlich – die Anzeige der Tätigkeit ggü. dem Gewerbeamt oder der Handwerkskammer.
Fazit
Die Abgrenzung zwischen selbstständiger und abhängiger Tätigkeit erfordert eine genaue Prüfung der tatsächlichen Umstände des Vertragsverhältnisses. Die aufgeführten Kriterien zeigen, dass viele Faktoren zu berücksichtigen sind, um das Risiko der Scheinselbstständigkeit zu minimieren. Auftraggeber sollten daher im Zweifelsfall eine umfassende Einzelfallprüfung vornehmen, um mögliche Haftungsrisiken zu vermeiden.
Appendix: Versicherungspflicht in einzelnen Versicherungszweigen
Auch wenn keine umfassende Sozialversicherungspflicht vorliegt, kann eine Versicherungspflicht in einzelnen Versicherungszweigen bestehen
4. Sozialversicherungspflicht gem. § 12 Abs. 2 SGB IV
Selbstständige, die Arbeitsmittel- und Ortssouveränität besitzen, aber wirtschaftlich von einem Auftraggeber abhängig sind und nicht als Unternehmer auftreten, können als Heimarbeiter gelten und somit versicherungspflichtig sein (§ 12 Abs. 2 SGB IV; BeckOGK/Zieglmeier, 15.11.2023, SGB IV § 12 Rn. 17 ff.). Dies ist jedoch ausgeschlossen, wenn sie eigene Hilfskräfte beschäftigen.
5. Versicherungspflicht gem. § 2 SGB VI
Ein selbstständiger Auftragnehmer kann auch in der Rentenversicherung sozialversicherungspflichtig sein, wenn er im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig ist und keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt (§ 2 Nr. 9 SGB VI). Eine Ausnahme besteht, wenn der Auftragnehmer seine Tätigkeit erst kürzlich aufgenommen hat und die Befreiung gem. § 6 Abs. 1a SGB VI für drei Jahre geltend macht.
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