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Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige: EuGH schafft Klarheit – aber viele Fragen bleiben offen

Mit zwei aktuellen Entscheidungen vom 30. Oktober 2025 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die arbeitsrechtliche Diskussion über die Rechtsfolgen fehlerhafter oder vollständig unterbliebener Massenentlassungsanzeigen neu entfacht. Die Urteile in den Rechtssachen Tomann (C-134/24) und Sewel (C-402/24) ergingen aufgrund von Vorlagebeschlüssen des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Diese Vorlagebeschlüsse waren zum einen die des 2. Senats des BAG, Beschluss vom 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23 (A) und des 6. Senats des BAG, Beschluss vom 23.05.2024, Az. 6 AZR 152/22 (A). Diese beiden Entscheidungen des EuGH haben das Potenzial, die deutsche Kündigungsschutzpraxis nachhaltig zu verändern.


Auch wenn der EuGH einige grundlegende Fragen beantwortet, bleiben zentrale Punkte – insbesondere die Sanktionsfolgen – weiterhin ungeklärt.


1. Die Grundlage: Massenentlassungsrichtlinie (MERL) als zwingendes unionsrechtliches Verfahren

Die MERL sieht zwei zwingende Verfahrensschritte vor:

  • Konsultation der Arbeitnehmervertretung (Art. 2 MERL),

  • Anzeige der geplanten Entlassungen gegenüber der zuständigen Behörde (Art. 3 MERL).


Erst ab Eingang der Anzeige beginnt die in Art. 4 MERL geregelte 30-tägige Sperrfrist, innerhalb der Kündigungen nicht wirksam werden können. Mitgliedstaaten müssen gemäß Art. 6 MERL sicherstellen, dass diese Verfahren effektiv umgesetzt werden.


2. Exkurs: Uneinigkeit zwischen dem 2. und 6. Senat des BAG

In Deutschland war bisher anerkannt, dass eine Kündigung ohne vorherige ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige gemäß § 134 BGB nichtig ist.

  • Der 2. Senat des BAG hielt bislang an dieser strikten Nichtigkeitsfolge fest.

  • Der 6. Senat des BAG stellte dies infrage und bezweifelte, dass ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung führen müsse.


Da hiermit eine Abweichung von der Rechtsprechung des 2. Senats drohte, leitete der 6. Senat ein Anfrageverfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG ein. Beide Senate legten schließlich nahezu identische Fragen zur unionsrechtlichen Bewertung dem EuGH vor.


3. Die Entscheidungen des EuGH – was nun als gesichert gilt

Die Entscheidungen enthalten mehrere wegweisende Aussagen:

(1) Eine Kündigung kann erst nach Ablauf der 30-Tage-Frist wirksam werden – und diese Frist setzt eine Anzeige zwingend voraus. Damit bestätigt der EuGH: Ohne Anzeige beginnt die Sperrfrist nicht. Eine Wirksamkeit der Kündigung ohne vorherige Anzeige scheidet aus.


(2) Eine nachträgliche Anzeige heilt die fehlende Anzeige nicht. Der Arbeitgeber kann eine unterlassene Anzeige nicht nachholen, um die Wirksamkeit der Kündigung zu „retten“.


(3) Die unionsrechtlich vorgesehene Reihenfolge: Konsultation, danach Anzeige und am Schluss die Kündigung, ist strikt einzuhalten.


(4) Die Richtlinie gewährleistet Verfahrensschutz – die Sanktionsfrage bleibt Sache der Mitgliedstaaten. Der EuGH verpflichtet die Mitgliedstaaten, Rechtsfolgen vorzusehen, die:

  • wirksam,

  • verhältnismäßig und

  • abschreckend (Entschädigung der betroffenen Arbeitnehmer) sind und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie gewährleisten.


(5) Eine fehlerhafte Anzeige erfüllt den Zweck der Richtlinie nicht – auch dann nicht, wenn die Behörde nicht einschreitet. Der EuGH macht deutlich: Selbst wenn die Agentur für Arbeit eine fehlerhafte Anzeige nicht beanstandet oder Defizite – durch eigene amtliche Ermittlungen – faktisch kompensiert, wird der unionsrechtliche Schutz nicht erreicht.


4. Konsequenzen für die deutsche Arbeitsrechtspraxis: Keine Automatik, aber auch kein Freifahrtschein

Für die arbeitsrechtliche Praxis bedeutet das:


(a) Unionsrechtlich zwingend ist die 30-Tage-Frist – nicht zwingend ist die Nichtigkeit der Kündigung. Die MERL schreibt nicht vor, dass Kündigungen ohne Anzeige nichtig sein müssen. Aber sie verlangt sehr wohl eine effektive Sanktion. Damit ist klar, dass der unionsrechtliche Druck auf nationale Gerichte hoch bleibt.


(b) Eine fehlerhafte, aber unbeanstandete Anzeige genügt nicht. Auch wenn die Behörde die Anzeige akzeptiert, entfällt dadurch nicht die Pflicht zur ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens.


5. Offene Fragen: Wie sieht eine unionsrechtskonforme Sanktion aus?

Genau hier beginnt die Unsicherheit:

  • Der EuGH verbietet eine nachträgliche Heilung einer komplett unterbliebenen Anzeige.

  • Eine schwebende Unwirksamkeit mit späterer „ex nunc“-Wirksamkeit lehnt der EuGH für fehlerhafte Anzeigen ebenfalls ab.

  • Die „klassische deutsche“ Lösung des § 134 BGB (Nichtigkeit) ist unionsrechtlich nicht zwingend, aber auch nicht ausgeschlossen.


Mögliche – aber problematische – Alternativen:

  • Schwebende Unwirksamkeit mit ex tunc oder ex nunc Wirkung? → Beide Varianten erscheinen nach den EuGH-Urteilen unionsrechtswidrig, weil sie die strikte Reihenfolge der Verfahrensschritte aufweichen würden.

  • Entschädigungsansprüche der Arbeitnehmer? → Möglich, aber der EuGH äußert sich nicht ausdrücklich zu dieser Thematik.

  • Bußgelder oder aufsichtsrechtliche Sanktionen gegen Arbeitgeber? → Unionsrechtlich denkbar, aber arbeitsrechtlich wenig hilfreich.


Fazit zu den offenen Fragen: Der EuGH lässt bewusst offen, welche Sanktion der deutsche Gesetzgeber oder die Rechtsprechung wählen sollen. Klar ist nur: Sie muss wirksam sein – und die Ziele der MERL gewährleisten.


6. Ausblick: Was bedeutet das für laufende und künftige Kündigungsschutzverfahren?

In der aktuellen Rechtslage gilt:

  • Arbeitgeber müssen Verfahren nach Art. 2–4 MERL äußerst (weiterhin) sorgfältig durchführen.

  • Fehlerhafte oder unterbliebene Anzeigen bieten weiterhin erhebliches Angriffspotenzial für Arbeitnehmer.

  • Arbeitnehmer und Betriebsräte sollten Massenentlassungsverfahren kritisch prüfen und frühzeitig anwaltlichen Rat einholen.


Bis der Gesetzgeber oder das BAG eine klare Linie vorgibt, bleibt die Rechtslage unklar, was insbesondere für anhängige Kündigungsschutzklagen zu taktischen Überlegungen auf Arbeitnehmerseite führen wird.


Unsere Rechtsanwaltskanzlei begleitet Sie bei Umstrukturierungsprozessen und auch arbeitsrechtlichen Massenentlassungen sowie Prüfung und Anpassung arbeitsrechtlicher Verträge auf Basis der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung.

 
 
 

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